Цвейг, Стефан - Цвейг - BuchmendelПроза и поэзия >> Переводная проза >> Цвейг, Стефан Читать целиком Stefan Zweig. Buchmendel
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(зОЕПВК тЮЕУФ. чЪХСКСЗО. кВ КЕЙЕТХЛЙ ГЖЭХЕ).
OCR, Spellcheck: сИЫГ пНВКХ, http://frank.deutschesprache.ru
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Wieder einmal in Wien und heimkehrend von einem Besuch in den Дuгeren
Bezirken, geriet ich unvermutet in einen Regenguг, der mit nasser Peitsche
die Menschen hurtig in Haustore und UnterstДnde jagte, und auch ich selbst
suchte schleunig nach einem schЫtzenden Obdach. GlЫcklicherweise wartet nun
in Wien an jeder Ecke ein Kaffeehaus - so flЫchtete ich in das gerade
gegenЫberliegende, mit schon tropfendem Hut und arg durchnДгten Schultern.
Es erwies sich von innen als VorstadtcafУ hergebrachter, fast schematischer
Art, ohne die neumodischen Attrappen der Deutschland nachgeahmten
innerstДdtischen Musikdielen, altwienerisch bЫrgerlich und vollgefЫllt mit
kleinen Leuten, die mehr Zeitungen konsumierten als GebДck. Jetzt um die
Abendstunde war zwar die ohnehin schon stickige Luft mit blauen
Rauchkringeln dick marmoriert, dennoch wirkte dies Kaffeehaus sauber mit
seinen sichtlich neuen Samtsofas und seiner aluminiumhellen Zahlkasse: in
der Eile hatte ich mir gar nicht die MЫhe genommen, seinen Namen auгen
abzulesen, wozu auch? Und nun saг ich warm und blickte ungeduldig durch die
blauЫberflossenen Scheiben, wann es dem lДstigen Regen belieben wЫrde, sich
ein paar Kilometer weiter zu verziehen.
UnbeschДftigt saг ich also da und begann schon jener trДgen PassivitДt
zu verfallen, die narkotisch jedem wirklichen Wiener Kaffeehaus unsichtbar
entstrТmt. Aus diesem leeren GefЫhl blickte ich mir einzeln die Leute an,
denen das kЫnstliche Licht dieses Rauchraums ein ungesundes Grau um die
Augen schattete, schaute dem FrДulein an der Kasse zu, wie sie mechanisch
Zucker und LТffel fЫr jede Kaffeetasse dem Kellner austeilte, las halbwach
und unbewuгt die hТchst gleichgЫltigen Plakate an den WДnden, und diese Art
Verdumpfung tat beinahe wohl. Aber plТtzlich ward ich auf merkwЫrdige Weise
aus meiner HalbschlДferei gerissen, eine innere Bewegung begann unbestimmt
unruhig in mir, so wie ein kleiner Zahnschmerz beginnt, von dem man noch
nicht weiг, ob er von links, von rechts, vom untern oder obern Kiefer seinen
Ausgang nimmt; nur ein dumpfes Spannen fЫhlte ich, eine geistige Unruhe.
Denn plТtzlich - ich hДtte es nicht sagen kТnnen, wodurch - wurde mir
bewuгt, hier muгte ich schon einmal vor Jahren gewesen und durch irgendeine
Erinnerung diesen WДnden, diesen StЫhlen, diesen Tischen, diesem fremden,
rauchigen Raum verbunden sein.
Aber je mehr ich den Willen vortrieb, diese Erinnerung zu fassen, desto
boshafter und glitschiger wich sie zurЫck - wie eine Qualle ungewiг
leuchtend auf dem untersten Grunde des Bewuгtseins und doch nicht zu
greifen, nicht zu packen. Vergeblich klammerte ich den Blick an jeden
Gegenstand der Einrichtung; gewiг, manches kannte ich nicht, wie die Kasse
zum Beispiel mit ihrem klirrenden Zahlungsautomaten und nicht diesen braunen
Wandbelag aus falschem Palisanderholz, alles das muгte erst spДter
aufmontiert worden sein. Aber doch, aber doch, hier war ich einmal gewesen
vor zwanzig Jahren und lДnger, hier haftete, im Unsichtbaren versteckt wie
der Nagel im Holz, etwas von meinem eigenen, lДngst Ыberwachsenen Ich.
Gewaltsam streckte und stieг ich alle meine Sinne vor in den Raum und
gleichzeitig in mich hinein - und doch, verdammt! Ich konnte sie nicht
erreichen, diese verschollene, in mir selbst ertrunkene Erinnerung.
Ich Дrgerte mich, wie man sich immer Дrgert, wenn irgendein Versagen
einen die UnzulДnglichkeit und Unvollkommenheit der geistigen KrДfte gewahr
werden lДгt. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, diese Erinnerung doch noch
zu erreichen. Nur einen winzigen Haken, das wuгte ich, muгte ich in die Hand
kriegen, denn mein GedДchtnis ist sonderbar geartet, gut und schlecht
zugleich, einerseits trotzig und eigenwillig, aber dann wieder
unbeschreiblich getreu. Es schluckt das Wichtigste sowohl an Geschehnissen
als auch an Gesichtern, an Gelesenem wie an Erlebtem oft vТllig hinab in
seine Dunkelheiten und gibt nichts aus dieser Unterwelt ohne Zwang, bloг auf
den Anruf des Willens heraus. Aber nur den flЫchtigsten Halt muг ich fassen,
eine Ansichtskarte, ein paar SchriftzЫge auf einem Briefkuvert, ein
verrДuchertes Zeitungsblatt, und sofort zuckt das Vergessene wie an der
Angel der Fisch aus der dunkel strТmenden FlДche vТllig leibhaft und
sinnlich wieder hervor. Jede Einzelheit weiг ich dann eines Menschen, seinen
Mund und im Mund wieder die ZahnlЫcke links bei seinem Lachen, und den
brЫchigen Tonfall dieses Lachens und wie dabei der Schnurrbart ins Zucken
kommt und wie ein anderes, neues Antlitz heraustaucht aus diesem Lachen -
alles das sehe ich dann sofort in vТlliger Vision und weiг auf Jahre zurЫck
jedes Wort, das dieser Mensch mir jemals erzДhlte. Immer aber bedarf ich, um
Vergangenes sinnlich zu sehen und zu fЫhlen, eines sinnlichen Anreizes,
eines winzigen Helfers aus der Wirklichkeit. So schloг ich die Augen, um
angestrengter nachdenken zu kТnnen, um jenen geheimnisvollen Angelhaken zu
formen und zu fassen. Aber nichts! Abermals nichts! VerschЫttet und
vergessen! Und ich erbitterte mich derart Ыber den schlechten, eigenwilligen
GedДchtnisapparat zwischen meinen SchlДfen, daг ich mit den FДusten mir die
Stirne hДtte schlagen kТnnen, so wie man einen verdorbenen Automaten
anrЫttelt, der widerrechtlich das Geforderte zurЫckbehДlt. Nein, ich konnte
nicht lДnger ruhig sitzen bleiben, so erregte mich dieses innere Versagen,
und ich stand vor lauter Arger auf, mir Luft zu machen. Aber sonderbar -
kaum daг ich die ersten Schritte durch das Lokal getan, da begann es schon,
flirrend und funkelnd, dieses erste phosphoreszierende DДmmern in mir.
Rechts von der Zahlkasse, erinnerte ich mich, muгte es hinЫbergehen in einen
fensterlosen und nur von kЫnstlichem Licht erhellten Raum. Und tatsДchlich:
es stimmte. Da war es, anders tapeziert als damals, aber doch genau in den
Proportionen, dies in seinen Konturen verschwimmende rechteckige
Hinterzimmer, das Spielzimmer. Instinktiv sah ich mich um nach den einzelnen
GegenstДnden, mit schon freudig vibrierenden Nerven (gleich wЫrde ich alles
wissen, fЫhlte ich). Zwei Billarde lungerten als grЫne lautlose
Schlammteiche darin, in den Ecken hockten Spieltische, an deren einem zwei
HofrДte oder Professoren Schach spielten. Und in der Ecke, knapp beim
eisernen Ofen, dort, wo man zur Telefonzelle ging, stand ein kleiner
viereckiger Tisch. Und da blitzte es mich plТtzlich durch und durch. Ich
wuгte sofort, sofort, mit einem einzigen heiгen, beglЫckt erschЫtterten
Ruck: mein Gott, das war ja Mendels Platz, Jakob Mendels, Buchmendels, und
ich war nach zwanzig Jahren wieder in sein Hauptquartier, in das CafУ Gluck
in der oberen Alserstraгe, geraten. Jakob Mendel, wie hatte ich ihn
vergessen kТnnen, so unbegreiflich lange, diesen sonderbarsten Menschen und
sagenhaften Mann, dieses abseitige Weltwunder, berЫhmt an der UniversitДt
und in einem engen, ehrfЫrchtigen Kreis - wie ihn aus der Erinnerung
verlieren, ihn, den Magier und Makler der BЫcher, der hier tДglich unentwegt
saг von morgens bis abends, ein Wahrzeichen des Wissens, Ruhm und Ehre des
CafУ Gluck!
Und nur diese eine Sekunde lang muгte ich den Blick nach innen wenden
hinter die Lider, und aufstieg schon aus dem bildnerisch erhellten Blut
seine unverkennbare, plastische Gestalt. Ich sah ihn sofort leibhaftig, wie
er dort immer saг an dem viereckigen Tischchen mit der grauschmutzigen
Marmorplatte, der allzeit mit BЫchern und Schriften ЫberhДuften. Wie er dort
unentwegt und unerschЫtterlich saг, den bebrillten Blick hypnotisch starr
auf ein Buch geheftet, wie er dort saг und im Lesen summend und brummend
seinen KТrper und die schlecht polierte, fleckige Glatze vor- und
zurЫckschaukelte, eine Gewohnheit, mitgebracht aus dem Cheder, der jЫdischen
Kleinkinderschule des Ostens. Hier an diesem Tisch und nur an ihm las er
seine Kataloge und BЫcher, so wie man ihn das Lesen in der Talmudschule
gelehrt, leise singend und sich schwingend, eine schwarze, schaukelnde
Wiege. Denn wie ein Kind in Schlaf fДllt und der Welt entsinkt durch dieses
rhythmisch hypnotische Auf und Nieder, so geht nach der Meinung jener
Frommen auch der Geist leichter ein in die Gnade .der Versenkung dank diesem
Sichwiegen und Sichschwingen des mЫгigen Leibes. Und tatsДchlich, dieser
Jakob Mendel sah und hТrte nichts von allem um sich her. Neben ihm lДrmten
und krakeelten die Billardspieler, liefen die MarkТre, rasselte das Telefon;
man scheuerte den Boden, man heizte den Ofen, er merkte nichts davon. Einmal
war eine glЫhende Kohle aus dem Ofen gefallen, schon brenzelte und qualmte
zwei Schritt von ihm das Parkett, da erst, am infernalischen Gestank,
bemerkte ein Gast die Gefahr und stЫrzt zu, hastig das Qualmen zu lТschen:
er selbst aber, Jakob Mendel, nur zwei Zoll weit und schon angebeizt vom
Rauch, er hatte nichts wahrgenommen. Denn er las, wie andere beten, wie
Spieler spielen und Trunkene betДubt ins Leere starren, er las mit einer so
rЫhrenden Versunkenheit, daг alles Lesen von andern Menschen mir seither
immer profan erschien. In diesem kleinen galizischen BЫchertrТdler Jakob
Mendel hatte ich zum erstenmal als junger Mensch das groгe Geheimnis der
restlosen Konzentration gesehen, das den KЫnstler macht wie den Gelehrten,
den wahrhaft Weisen wie den vollkommen Irrwitzigen, dieses tragische GlЫck
und UnglЫck vollkommener Besessenheit.
HingefЫhrt zu ihm hatte mich ein Дlterer Kollege von der UniversitДt.
Ich forschte damals dem selbst heute noch nur wenig erkannten paracelsischen
Arzt und Magnetiseur Mesmer nach, allerdings mit wenig GlЫck; denn die
einschlДgigen Werke erwiesen sich als unzulДnglich, und der Bibliothekar,
den ich argloser Neuling um Auskunft gebeten, murrte mich unfreundlich an,
Literaturnachweise seien meine Sache, nicht die seine. Damals nannte mir nun
jener Kollege zum erstenmal seinen Namen. "Ich geh mit dir zu Mendel",
versprach er mir, "der weiг alles und verschafft alles, der holt dir das
entlegenste Buch aus dem vergessensten deutschen Antiquariat heran. Der
tЫchtigste Mann in Wien und Ыberdies noch ein Original, ein vorweltlicher
BЫcher-Saurier aussterbender Rasse."
So gingen wir zu zweit ins CafУ Gluck, und siehe, da saг er,
Buchmendel, bebrillt, bartumschludert, schwarz angetan, und wiegte sich
lesend wie ein dunkler Busch im Wind. Wir traten heran, er merkte es nicht.
Er saг nur und las und wiegte den OberkТrper pagodenhaft hin und zurЫck Ыber
den Tisch, und hinter ihm pendelte am Haken sein brЫchiger schwarzer
Paletot, gleichfalls breit angestopft mit Zeitschriften und Zettelwerk. Um
uns anzukЫndigen, hustete mein Freund krДftig. Aber Mendel, die dicke Brille
hart ans Buch gedrЫckt, merkte noch nichts. Endlich klopfte mein Freund auf
die Tischplatte, genau so laut und krДftig, wie man an eine TЫre pocht - da
starrte Mendel endlich auf, schob die ungefЫge stahlgerДnderte Brille
mechanisch rasch die Stirn empor, und unter den weggestrДubten aschgrauen
Brauen stachen uns zwei merkwЫrdige Augen entgegen, kleine, schwarze, wache
Augen, flink, spitz und flippend wie eine Schlangenzunge. Mein Freund
prДsentierte mich, und ich erlДuterte mein Anliegen, wobei ich zuerst -
diese List hatte mein Freund ausdrЫcklich anempfohlen mich scheinzornig Ыber
den Bibliothekar beklagte, der mir keine Auskunft hatte geben wollen. Mendel
lehnte sich zurЫck und spuckte sorgfДltig aus. Dann lachte er nur kurz mit
stark Тstlichem Jargon: "Nicht gewollt hat er? Nein - nicht gekonnt hat er!
Ein Parch is er, ein geschlagener Esel mit graue Haar. Ich kenn ihn, Gott
sei's geklagt, zu gutem schon zwanzig Jahr, aber gelernt hat er seitdem noch
immer nix. Gehalt einstecken, dos is das einzige, was die kТnnen!
Ziegelsteine sollten sie lieber schupfen, diese Herrn Doktors, statt bei die
BЫcher sitzen."
Mit dieser krДftigen Herzentladung war das Eis gebrochen, und eine
gutmЫtige Handbewegung lud mich zum erstenmal an den viereckigen, mit
Notizen Ыberschmierten Marmortisch, diesen mir noch unbekannten Altar
bibliophiler Offenbarungen. Ich erklДrte rasch meine WЫnsche: die
zeitgenТssischen Werke Ыber Magnetismus sowie alle spДteren BЫcher und
Polemiken fЫr und gegen Mesmer; sobald ich fertig war, kniff Mendel eine
Sekunde das linke Auge zusammen, genau wie ein SchЫtze vor dem Schuг. Aber
wahrhaftig, nur eine Sekunde dauerte diese Geste konzentrierter
Aufmerksamkeit, dann zДhlte er sofort, wie aus einem unsichtbaren Katalog
lesend, zwei oder drei Dutzend BЫcher flieгend auf, jedes mit Verlagsort,
Jahreszahl und ungefДhrem Preis. Ich war verblЫfft. Obwohl vorbereitet, dies
hatte ich nicht erwartet. Aber meine Verdutztheit schien ihm wohlzutun; denn
sofort spielte er auf der Klaviatur seines GedДchtnisses die wunderbarsten
bibliothekarischen Paraphrasen meines Themas weiter. Ob ich auch Ыber die
Somnambulisten etwas wissen wolle und Ыber die ersten Versuche mit Hypnose
und Ыber Gaгner, die TeufelsbeschwТrungen und die Christian Science und die
Blavatsky? Wieder prasselten die Namen, die Titel, die Beschreibungen; jetzt
erst begriff ich, an ein wie einzigartiges Wunder von GedДchtnis ich bei
Jakob Mendel geraten war, tatsДchlich an ein Lexikon, an einen
Universalkatalog auf zwei Beinen. Ganz benommen starrte ich dieses
bibliographische PhДnomen an, eingespult in die unansehnliche, sogar etwas
schmierige HЫlle eines galizischen kleinen BuchtrТdlers, der, nachdem er mir
etwa achtzig Namen heruntergerasselt, scheinbar achtlos, aber innerlich
wohlgefДllig Ыber seinen ausgespielten Trumpf, sich die Brille mit einem
vormals vielleicht weiг gewesenen Taschentuch putzte. Um mein Staunen ein
wenig zu bemДnteln, fragte ich zaghaft, welche von diesen BЫchern er mir
allenfalls besorgen kТnne. "Nu, man wird ja sehen, was sich machen lДгt",
brummte er. "Kommen Sie nur morgen wieder her, der Mendel wird Ihnen
inzwischen schon eppes auftreiben, und was sich nicht findet, werd sich
anderswo finden. Wenn einer Sechel hat, hat er auch GlЫck." Ich dankte
hТflich und stolperte aus lauter HТflichkeit sofort in eine dicke Dummheit
hinein, indem ich vorschlug, ihm meine gewЫnschten Buchtitel auf einen
Zettel zu notieren. Im gleichen Augenblick spЫrte ich schon einen warnenden
Ellbogenstoг meines Freundes. Aber zu spДt! Schon hatte mir Mendel einen
Blick zugeworfen - welch einen Blick! -, einen gleichzeitig triumphierenden
und beleidigten, einen hТhnischen und Ыberlegenen, einen geradezu
kТniglichen Blick, den shakespearischen Blick Macbeths, wenn Macduff dem
unbesiegbaren Helden zumutet, sich kampflos zu ergeben. Dann lachte er
abermals kurz, der groгe Adamsapfel an seiner Kehle kollerte merkwЫrdig hin
und her, anscheinend hatte er ein grobes Wort mЫhsam verschluckt. Und er
wДre im Recht gewesen mit jeder erdenklichen Grobheit, der gute, brave
Buchmendel; denn nur ein Fremder, ein Ahnungsloser (ein "Amhorez", wie er
sagte) konnte eine derart beleidigende Zumutung stellen, ihm, Jakob Mendel,
einen Buchtitel aufzunotieren wie einem Buchhandlungslehrling oder
Bibliotheksdiener, als ob dieses unvergleichliche, dieses diamantene
Buchgehirn solch grober Hilfsmittel jemals bedurft hДtte. Erst spДter
begriff ich, wie sehr ich sein abseitiges Genie mit diesem hТflichen Angebot
gekrДnkt haben muгte; denn dieser kleine, zerdrЫckte, ganz in seinen Bart
eingewickelte und Ыberdies bucklige galizische Jude Jakob Mendel war ein
Titan des GedДchtnisses. Hinter dieser kalkigen, schmutzigen, von grauem
Moos Ыberwucherten Stirn stand in der unsichtbaren Geisterschrift jeder Name
und Titel wie mit Stahlguг eingestanzt, der je auf einem Titelblatt eines
Buches gedruckt war. Er wuгte von jedem Werk, dem gestern erschienenen wie
von einem zweihundert Jahre alten, auf den ersten Hieb genau den
Erscheinungsort, den Verfasser, den Preis, neu und antiquarisch, und
erinnerte sich bei jedem Buch mit fehlloser Vision zugleich an Einband und
Illustrationen und Faksimilebeigaben, er sah jedes Werk, ob er es selbst in
den HДnden gehabt oder nur von fern in einer Auslage oder Bibliothek einmal
erspДht hatte, mit der gleichen optischen Deutlichkeit wie der schaffende
KЫnstler sein inneres und der andern Welt noch unsichtbares Gebilde. Er
erinnerte sich, wenn etwa ein Buch im Katalog eines Regensburger
Antiquariats um sechs Mark angeboten wurde, sofort, daг ebendasselbe in
einem anderen Exemplar vor zwei Jahren in einer Wiener Auktion um vier
Kronen zu haben gewesen war, und zugleich auch des Erstehers; nein: Jakob
Mendel vergaг nie einen Titel, eine Zahl, er kannte jede Pflanze, jedes
Infusorium, jeden Stern in dem ewig schwingenden und stДndig umgerЫttelten
Kosmos des BЫcherweltalls. Er wuгte in jedem Fach mehr als die Fachleute, er
beherrschte die Bibliotheken besser als die Bibliothekare, er kannte die
Lager der meisten Firmen auswendig besser als ihre Besitzer, trotz ihren
Zetteln und Kartotheken, indes ihm nichts zu Gebote stand als Magie des
Erinnerns, als dies unvergleichliche, dies nur an hundert einzelnen
Beispielen wahrhaft zu explizierende GedДchtnis. Freilich, dieses GedДchtnis
hatte nur so dДmonisch unfehlbar sich schulen und gestalten kТnnen durch das
ewige Geheimnis jeder Vollendung: durch Konzentration. Auгerhalb der BЫcher
wuгte dieser merkwЫrdige Mensch nichts von der Welt; denn alle PhДnomene des
Daseins begannen fЫr ihn erst wirklich zu werden, wenn sie in Lettern sich
umgossen, wenn sie in einem Buche sich gesammelt und gleichsam sterilisiert
hatten. Aber auch diese BЫcher selbst las er nicht auf ihren Sinn, auf ihren
geistigen und erzДhlerischen Gehalt: nur ihr Name, ihr Preis, ihre
Erscheinungsform, ihr erstes Titelblatt zog seine Leidenschaft an.
Unproduktiv und unschТpferisch im letzten, bloг ein hunderttausendstelliges
Verzeichnis von Titeln und Namen, in die weiche Gehirnrinde eines
SДugetieres eingestempelt statt wie sonst in einen Buchkatalog geschrieben,
war dies spezifisch antiquarische GedДchtnis Jakob Mendels jedoch in seiner
einmaligen Vollendung als PhДnomen nicht geringer als jenes Napoleons fЫr
Physiognomien, Mezzofantis fЫr Sprachen, eines Lasker fЫr SchachanfДnge,
eines Busoni fЫr Musik. Eingesetzt in ein Seminar, an eine Тffentliche
Stelle, hДtte das Gehirn Tausende, Hunderttausende von Studenten und
Gelehrte belehrt und erstaunt, fruchtbar fЫr die Wissenschaften, ein
unvergleichlicher Gewinn fЫr jene Тffentlichen Schatzkammern, die wir
Bibliotheken nennen. Aber diese obere Welt war ihm, dem kleinen,
ungebildeten galizischen BuchtrТdler, der nicht viel mehr als seine
Talmudschule bewДltigt, fЫr ewig verschlossen; so vermochten diese
phantastischen FДhigkeiten sich nur als Geheimwissenschaft auszuwirken an
jenem Marmortische des CafУ Gluck. Doch wenn einmal der groгe Psychologe
kommt (dies Werk fehlt noch immer unserer geistigen Welt), der so beharrlich
und geduldig, wie Buffon die Abarten der Tiere ordnete und klassierte,
seinerseits alle Spielarten, Spezies und Urformen der magischen Macht, die
wir GedДchtnis nennen, vereinzelt schildert und in ihren Varianten darlegt,
dann mЫгte er Jakob Mendels gedenken, dieses Genies der Preise und Titel,
dieses namenlosen Meisters der antiquarischen Wissenschaft.
Dem Berufe nach und fЫr die Unwissenden galt Jakob Mendel freilich nur
als kleiner Buchschacherer. Allsonntags erschienen in der "Neuen Freien
Presse" und im "Neuen Wiener Tagblatt" dieselben stereotypen Anzeigen:
"Kaufe alte BЫcher, zahle beste Preise, komme sofort, Mendel, obere
Alserstraгe", und dann eine Telefonnummer, die in Wirklichkeit jene des CafУ
Gluck war. Er stТberte Lager durch, schleppte mit einem alten kaiserbДrtigen
Dienstmann allwТchentlich neue Beute in sein Hauptquartier und von dort
wieder weg, denn fЫr einen ordnungsmДгigen Buchhandel fehlte ihm die
Konzession. So blieb es beim kleinen Schacher, bei einer wenig eintrДglichen
TДtigkeit. Studenten verkauften ihm ihre LehrbЫcher, durch seine HДnde
wanderten sie vom Дlteren Jahrgang zum jeweils jЫngeren, auгerdem vermittele
und besorgte er jedes gesuchte Werk mit geringem Zuschlag. Bei ihm war guter
Rat billig. Aber das Geld hatte keinen Raum innerhalb seiner Welt; denn nie
hatte man ihn anders gesehen als im gleichen abgeschabten Rock, frЫh,
nachmittags und abends seine Milch verzehrend und zwei Brote, mittags eine
Kleinigkeit essend, die man ihm vorn Gasthaus herЫberholte. Er rauchte
nicht, er spielte nicht, ja man darf sagen, er lebte nicht, nur die beiden
Augen lebten hinter der Brille und fЫtterten jenes rДtselhafte Wesen Gehirn
unablДssig mit Worten, Titeln und Namen. Und die weiche, fruchtbare Masse
sog diese FЫlle gierig in sich ein wie eine Wiese die tausend und aber
tausend Tropfen eines Regens. Die Menschen interessierten ihn nicht, und von
allen menschlichen Leidenschaften kannte er vielleicht nur die eine,
freilich allermenschlichste, der Eitelkeit. Wenn jemand zu ihm um eine
Auskunft kam, an hundert andern Stellen schon mЫde gesucht, und er konnte
auf den ersten Hieb ihm Bescheid geben, dies allein wirkte auf ihn als
Genugtuung, als Lust, und vielleicht noch dies, daг in Wien und auswДrts ein
paar Dutzend Menschen lebten, die seine Kenntnisse ehrten und brauchten. In
jedem dieser ungefЫgen Millionenkonglomerate, die wir Groгstadt nennen, sind
immer an wenigen Punkten einige kleine Facetten eingesprengt, die ein und
dasselbe Weltall auf kleinwinziger FlДche spiegeln, unsichtbar fЫr die
meisten, kostbar bloг dem Kenner, dem Bruder in der Leidenschaft. Und diese
Kenner der BЫcher kannten alle Jakob Mendel. So wie man, wenn man Ыber ein
Musikblatt Rat holen wollte, zu Eusebius Mandyczewski in die Gesellschaft
der Musikfreunde ging, der dort mit grauem KДppchen freundlich inmitten
seiner Akten und Noten saг und mit dem ersten aufschauenden Blick die
schwierigsten Probleme lДchelnd lТste, so wie heute noch jeder, der Ыber
Altwiener Theater und Kultur Aufschluг braucht, unfehlbar sich an den
allwissenden Vater Glossy wendet, so pilgerten mit der gleichen vertrauenden
SelbstverstДndlichkeit die paar strengglДubigen Wiener Bibliophilen, sobald
es eine besonders harte Nuг zu knacken gab, ins CafУ Gluck zu Jakob Mendel.
Bei einer solchen Konsultation Mendel zuzusehen bereitete mir jungem
neugierigem Menschen eine Wollust besonderer Art. WДhrend er sonst, wenn man
ihm ein minderes Buch vorlegte, den Deckel verДchtlich zuklappte und nur
murrte: "Zwei Kronen", rЫckte er vor irgendeiner RaritДt oder einem Unikum
respektvoll zurЫck, legte ein Papierblatt unter, und man sah, daг er sich
auf einmal seiner schmutzigen, tintigen, schwarznДgeligen Finger schДmte.
Dann begann er zДrtlich-vorsichtig, mit einer ungeheuren Hochachtung das
Rarum anzublДttern, Seite fЫr Seite. Niemand konnte ihn in einer solchen
Sekunde stТren, so wenig wie einen wirklich GlДubigen im Gebet, und
tatsДchlich hatte dies Anschauen, BerЫhren, Beriechen und AbwДgen, hatte
jede dieser Einzelhandlungen etwas von dem Zeremoniell, von der kultisch
geregelten Aufeinanderfolge eines religiТsen Aktes. Der krumme RЫcken schob
sich hin und her, dabei murrte und knurrte er, kratzte sich im Haar, stieг
merkwЫrdige vokalische Urlaute aus, ein gedehntes, fast erschrockenes "Ah"
und "Oh" hingerissener Bewunderung und dann wieder ein rapid erschrecktes
"Oi" oder "Oiweh", wenn sich eine Seite als fehlend oder ein Blatt als vom
Holzwurm zerfressen erwies. Schlieгlich wog er die Schwarte respektvoll auf
der Hand, beschnЫffelte und beroch das ungefЫgige Quadrat mit
halbgeschlossenen Augen nicht minder ergriffen als ein sentimentalisches
MДdchen eine Tuberose. WДhrend dieser etwas umstДndlichen Prozedur muгte
selbstredend der Besitzer seine Geduld zusammenhalten. Nach beendetem Examen
aber gab Mendel bereitwillig, ja geradezu begeistert, jede Auskunft, an die
sich unfehlbar weitspurige Anekdoten und dramatische Preisberichte von
Дhnlichen Exemplaren anschlossen. Er schien heller, jЫnger, lebendiger zu
werden in solchen Sekunden, und nur eines konnte ihn maгlos erbittern: wenn
etwa ein Neuling ihm fЫr diese SchДtzung Geld anbieten wollte. Dann wich er
gekrДnkt zurЫck wie etwa ein Galeriehofrat, dem ein durchreisender
Amerikaner fЫr seine ErklДrung ein Trinkgeld in die Hand drЫcken will; denn
ein kostbares Buch in der Hand haben zu dЫrfen bedeutete fЫr Mendel, was fЫr
einen andern die Begegnung mit einer Frau. Diese Augenblicke waren seine
platonischen LiebesnДchte. Nur das Buch, niemals Geld hatte Ыber ihn Macht.
Vergebens versuchten darum groгe Sammler, darunter auch der GrЫnder der
UniversitДt in Princeton, ihn fЫr ihre Bibliothek als Berater und EinkДufer
zu gewinnen - Jakob Mendel lehnte ab; er war nicht anders zu denken als im
CafУ Gluck. Vor dreiunddreiгig Jahren, mit noch weichem, schwarzflaumigem
Bart und geringelten Stirnlocken, war er, ein kleines schiefes JЫngel, aus
dem Osten nach Wien gekommen, um Rabbinat zu studieren; aber bald hatte er
den harten Eingott Jehovah verlassen, um sich der funkelnden und
tausendfДltigen VielgТtterei der BЫcher zu ergeben. Damals hatte er zuerst
ins CafУ Gluck gefunden, und allmДhlich wurde es seine Werkstatt, sein
Hauptquartier, sein. Postamt, seine Welt. Wie ein Astronom einsam auf seiner
Sternwarte durch den winzigen Rundspalt des Teleskops allnДchtlich die
Myriaden Sterne betrachtet, ihre geheimnisvollen GДnge, ihr wandelndes
Durcheinander, ihr VerlТschen und SichwiederentzЫnden, so blickte Jakob
Mendel durch seine Brille von diesem viereckigen Tisch in das andere
Universum der BЫcher, das gleichfalls ewig kreisende und sich umgebДrende,
in diese Welt Ыber unserer Welt.
SelbstverstДndlich war er hoch angesehen im CafУ Gluck, dessen Ruhm
sich fЫr uns mehr an sein unsichtbares Katheder knЫpfte als an die
Patenschaft des hohen Musikers, des SchТpfers der "Alceste" und der
"Iphigenia": Christoph Willibald Gluck. Er gehТrte dort ebenso zum Inventar
wie die alte Kirschholzkasse, wie die beiden arg geflickten Billarde, der
kupferne Kaffeekessel, und sein Tisch wurde gehЫtet wie ein Heiligtum. Denn
seine zahlreichen Kundschaften und Auskundschafter wurden von dem Personal
jedesmal freundlich zu irgendeiner Bestellung gedrДngt, so daг der grТгere
Gewinnteil seiner Wissenschaft eigentlich dem Oberkellner Deubler in die
breite, hЫftwДrts getragene Ledertasche floг. DafЫr genoг Buchmendel
vielfache Privilegien. Das Telephon stand ihm frei, man hob ihm seine Briefe
auf und besorgte alle Bestellungen; die alte, brave Toilettenfrau bЫrstete
ihm den Mantel, nДhte KnТpfe an und trug ihm jede Woche ein kleines BЫndel
zur WДsche. Ihm allein durfte aus dem nachbarlichen Gasthaus eine
Mittagsmahlzeit geholt werden, und jeden Morgen kam der Herr Standhartner,
der Besitzer, in persona an seinen Tisch und begrЫгte ihn (freilich meist,
ohne daг Jakob Mendel, in seine BЫcher vertieft, diesen Gruг bemerkte).
Punkt halb acht Uhr morgens trat er ein, und erst wenn man die Lichter
auslТschte, verlieг er das Lokal. Zu den andern GДsten sprach er nie, er las
keine Zeitung, bemerkte keine VerДnderung, und als der Herr Standhartner ihn
einmal hТflich fragte, ob er bei dem elektrischen Licht nicht besser lese
als frЫher bei dem fahlen, zuckenden Schein der Auerlampen, starrte er
verwundert zu den GlЫhbirnen auf: diese VerДnderung war trotz dem LДrm und
GehДmmer einer mehrtДgigen Installation vollkommen an ihm vorbeigegangen.
Nur durch die zwei runden LТcher der Brille, durch diese beiden blitzenden
und saugenden Linsen filterten sich die Milliarden schwarzer Infusorien der
Lettern in sein Gehirn, alles andere Geschehen strТmte als leerer LДrm an
ihm vorbei. Eigentlich hatte er mehr als dreiгig Jahre, also den ganzen
wachen Teil seines Lebens, einzig hier an diesem viereckigen Tisch lesend,
vergleichend, kalkulierend verbracht, in einem unablДssig fortgesetzten, nur
vom Schlaf unterbrochenen Dauertraum.
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